Das neue Neu. Fundstück aus 2010
Das neue Neu. Secondhand ist ein Blog-Beitrag von mir aus dem Jahr 2010. Er fiel mir wieder in die Hände, als ich den Newsletter 01.2020 vom Zukunftsinstitut mit dem Unwort des Jahres 2019 „Klimahysterie“ bekam.
Beim Lesen merkte ich: Der Druck zum Grünen und Ökologischen wird rasant höher und setzt immer mehr Menschen und Organisationen zu – und das nicht erst seit Greta Thunbergs Rede vor dem UN-Klimagipfel 2018.
Wenn sogar Larry Fink, der Boss der weltgrößten Vermögensberatung, in einem vierseitigen Brief mahnt und von Managern ein ernsthaftes Bewusstsein im Manager Magazin (14.01.2020) für Nachhaltigkeitsthemen einfordert, dann dürfte klar sein: The house is really on fire.
PS: Da dieser Beitrag das Vorwort meines Ebooks werden wird, lag er noch etwas bei der Lektorin – und dann kam am 13. März 2020 die Coronakrise mit Shutdown. Und alles, auch die Sicht auf Nachhaltigkeit, veränderte sich nochmal wie Impuls 11 Mehrwert Secondhand zeigt.
Secondhand. Das neue Neu? wird darin ganz deutlich als Zukunftssicht von verschiedenen Branchen (Automobil, Schrotthandel) aufgegriffen. Mehr dazu in meiner 14-tägigen Beitragsreihe Mäusestrategie in der Coronakrise. Veränderungen erfolgreich begegnen.
Das neue Neu. Zukunftsszenario oder schon normal?
Sonja: „Peter, hast du schon mein neues Büro gesehen? Total klasse und voll kultig – und ich habe gegenüber Neuproduktion alleine pro Schreibtisch 530 kg CO2 gespart. Mit dieser Ersparnis kann ich jetzt als Single ein ganzes Jahr mein Haus mit Strom versorgen!“
Peter: „Mensch Sonja, dann brauche ich dich ja nicht mehr auf meine Rolf Benz Couch aus 100% chromfreigegerbtem Leder mit Bambusgestell aus heimischer Produktion zum Feuerwerk gucken einladen, oder?“
Dieser Dialog ist vermutlich kein weitentferntes Zukunftsszenario mehr. Bereits heute, 2010 (Anmerkung der Autorin: Dieser Blog-Beitrag stammt noch aus meiner Zeit der Greenoffice-Agentur als Greenoffice-Sachverständige), beträgt der Anteil der LOHAS (Liftstyle of Health and Sustanebility) schon 19% der Käufer im privaten Käufermarkt. Diese Käufergruppe lebt und fordert eindeutig einen Nachhaltigkeitskreislauf in den Bereichen Wellness, Ernährung, Gesundheit, …. Die LOHAS bringen einerseits die finanziellen Mittel, andererseits aber sehr wohl die Ansprüche an den Anbietermarkt nach einer neuen Werthaltigkeit mit. Was heißt das nun? Wieso vor allem entsprach das alte Neu anders als das neue Neu nicht diesen Werten?
Praxistest: Konventionelle und nachhaltige Produktion?
Die Werthaltigkeit einer Ware hängt von der jeweiligen Brille ab, die der Betrachter bei der Beurteilung aufsetzt. Vielleicht lässt es sich am Vergleich von ökologischer und konventioneller Landwirtschaft am verständlichsten erläutern. In der ZDF-Reportage „Was ist unser Essen wert?“ (Reporter unterwegs vom 7. Oktober 2010; Beitrag vom 07.10.2018) haben in einem Beitrag zwei Reporter mit unterschiedlichen „Brillen“ (Werthaltungen) auf dem Wochenmarkt den Vergleich gestartet: was ist besser, konventioneller oder nachhaltiger Landbau?
Das Ergebnis war erstaunlich: Selbst die Testesser haben nach vertauschten Schildern mit höherem %-Anteil die konventionellen Produkte als BIO und besser bewertet. Und auch die befragten Ärzte fanden den Spaltenboden für Schweine aus der konventionellen Viehhaltung gesünder als die Freilandhaltung.
Woran liegt das? Die Antwort darauf bekommen wir auch in der Reportage: Der Mensch im Industriezeitalter ist in der Stadt so konditioniert. Wir alle können vermutlich auch auf dem Bauernhof nicht mehr das Land-Ei vom Industrie-Ei unterscheiden.
Risiken sind in der Moderne rationale Phänomene
Bei diesem Test-Ergebnis frage ich euch, wieso sollte es bei den anderen Lebensbereichen nicht genauso sein? Wir sind so aufgewachsen, mit dem Bewusstsein, dass technische Innovation/Fortschritt IMMER besser sein muss. Da möchte ich als Soziologin Ulrich Beck mit einem Auszug aus seinem Buch „Risikogesellschaft“ von 1988 zitieren:
„Die Menschen können die Gefahren heute nicht mehr spüren, riechen, schmecken. Sie müssen sie rational erfassen.“ (Beck, Risikogesellschaft)
Aus meiner Sicht ist das mit den Werten genau das gleiche: Jeder von uns hat in unserer westlichen, deutschen Kultur gelernt, was gut und schlecht ist, was das neue Neu ist. Jeder weiß heute, 2010, dass wir niemandem für einen Diebstahl die Hand abhacken dürfen. Doch wie war es im Mittelalter? Und wie ist es auch heute noch in islamischen Kulturen?
Gebraucht ist Abfall in der Industriegesellschaft
Du merkst, wenn unsere deutsche Gesellschaft in ihren Abfallgesetzen offiziell Secondhand-Waren oder „Waren aus Vorbesitz“ als Müll definiert, dann will niemand zu den Neu-Besitzern von Müll gehören. Wörtlich heißt es in §3 des Kreislaufwirtschaftsgesetz:
„Abfälle im Sinne dieses Gesetzes sind alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss. Abfälle zur Verwertung sind Abfälle, die verwertet werden; Abfälle, die nicht verwertet werden, sind Abfälle zur Beseitigung.“
Es braucht dafür auch wieder eine neue Konditionierung, bei der wir lernen, dass bei Rohstoffknappheit und Umweltkatastrophen, wie gerade in Ungarn beim Aluminiumabbau passiert, die Relation von höher, schneller, weiter nicht automatisch auch den Wert des (menschlichen) Lebens achtet. Oder sind Menschen in Ländern mit großen Rohstoffvorkommen, geringen Löhnen und niedrigen Sicherheitsbestimmungen automatisch weniger wert? Zählt hier nur das Geld in Form von Ertrag und Ersparnis aus Sicht der industriellen „Arbeit-/Auftraggeber“?
Machen wir uns bewusst, dass das alles umfasst, was wir nach Gebrauch wegschmeißen – und bei Möbeln sind das heute (2010) jährlich 7,5 Millionen Tonnen, die qua Definition Müll sind. Allgemein werden sogar 93% aller abgebauten Rohstoffe noch vor oder bei der Herstellung zu Abfall (Schmidt-Bleek, Ökologischer Rucksack, 1994).
Rohstoffmangel wandelt Abfall in einen Wertstoff der modernen Lebenskultur
Da können wir doch bei den steigenden Müllbergen froh und dankbar sein, dass es „Schrotthändler und Co.“ gibt, die wieder einen Mehrwert aus unserem (scheinbaren) Müll generieren. Und besonders froh können wir sein, dass sich heute Menschen wie Sonja aus unserem Eingangsdialog über die CO2-Ersparnis beim Gebrauchtkauf freuen! Freuen können wir uns auch, dass es heute (wieder) namhafte Designer weltweit gibt, die aus Schrott und Müll als Rohstoff neue Produkte gestalten (vgl. dazu FAZ-Artikel 15.11.2009 „Inneneinrichtung – Müll wird salonfähig”).
Und mal ehrlich, waren es nicht meist Engpässe, die Menschen in der Geschichte zu den kreativen Entwicklungen brachten? Denken wir nur mal an die Spanplatte. Sie verdankt 1950 ihr Entstehen dem Wunsch des Schwarzwälder Industriellen Max Himmelheber, seine Holzabfälle zu recyceln. Heute werden weltweit 70-80% des minderwertigen Holzbestandes zu Spanplatten verarbeitet. Die Spanplatte revolutionierte die gesamte Möbelproduktion von der manuellen hin zur weltweiten industriellen Fertigung (vgl. dazu wikipedia.org/Max_Himmelheber).
Also freuen wir uns alle über die Neunutzung von gebrauchten Büromöbeln in der Kreislaufwirtschaft. Das ist das neue Neu. Möbel kommen so beispielsweise von ihrem ersten „Arbeitsplatz“ in der Bank zu ihrem nächsten in der Werbeagentur oder wie bei Sonja ins eigene Büro. Auch werden Produkte wie alte Planen oder Autoreifen nun zu Rohstoffen und Werkstoffen für z.B. neue Bezüge für Drehstühle oder Sofas.
Secondhand. Kult(ur). Kein Müll.
PS: Menschen die Mut machen – José Adolfo Quisocala
Dass die besten Ideen manchmal von den Jüngsten kommen, beweist der 14-jährige Umwelt-Banker aus Peru. Bereits mit sieben Jahren gründete José Adolfo die Bartselana Schülerbank.
Bei der Bartselana Schülerbank können Kinder und Jugendliche nicht nur ihre eigenen Konten eröffnen, sondern auch ihr Guthaben aufladen – über das Sammeln und Abgeben ihres recycelbaren Hausmülls beim Schulkiosk.